Recht auf Bildung: Was bedeutet das genau?

Lisa Fahrni

Als Voraussetzung für Chancengleichheit, persönliche Entfaltung und ökonomische Stabilität ist das Recht auf Bildung auch eine wichtige Grundlage für die Wahrnehmung anderer Menschenrechte. Es ist sowohl im Schweizer Landesrecht als auch in verschiedenen völkerrechtlichen Verträgen verankert. Die Schweizer Bundesverfassung enthält konkret den Anspruch auf unentgeltlichen und ausreichenden Grundschulunterricht für alle in der Schweiz wohnhaften Kinder.

Grundidee

Bildung ermöglicht die Entfaltung der Persönlichkeit und ist Grundlage für die Wahrnehmung vieler anderer Menschenrechte. Das Recht auf Bildung ist daher, mit leicht unterschiedlichen Inhalten, sowohl in der Schweizer Verfassung verankert als auch in internationalen Abkommen wie dem UNO-Pakt I und der UNO-Kinderrechtskonvention.

Dieses Recht ist gleichzeitig eine Pflicht: Jedes Kind muss ausreichenden Grundschulunterricht erhalten. Der Begriff des Grundschulunterrichts ist in der Verfassung nicht näher definiert, es werden jedoch auch die Sek I sowie die Sonderschulen von diesem Grundrecht erfasst. Nicht dazu zählen hingegen die Gymnasien und Untergymnasien sowie die Hochschulen. In der Schweiz beträgt die obligatorische Schulzeit in allen Kantonen neun Jahre – je nach Kanton kommen dazu noch zwei Jahre obligatorischen Kindergartens.[1]

Funktionen

Das Recht auf Bildung beziehungsweise auf Grundschulunterricht hat verschiedene Ziele.

Dadurch, dass es ein gewisses Mass an Bildung für alle zugänglich macht, stellt es eine zentrale Voraussetzung für die Chancengleichheit dar. Damit trägt es dazu bei, Armut und Unterdrückung zu verhindern und bildet die Grundlage für ökonomische Stabilität. Insbesondere soll das Recht auf Bildung einen Beitrag dazu leisten, Kinder vor wirtschaftlicher Ausbeutung, zum Beispiel vor Kinderarbeit, zu schützen. Ein Mindestmass an Bildung ist also einerseits wichtig für die persönliche Entwicklung und andererseits die Grundlage für die Wahrnehmung anderer Grundrechte. Gerade in der Schweiz ist sie darüber hinaus ein Garant für das Funktionieren der Demokratie.

Schliesslich verfolgt die obligatorische Schulbildung auch das Ziel einer diskriminierungsfreien Gesellschaft und soll dazu dienen, Werte, Erfahrungen und kulturelle Traditionen weiterzugeben.[2]

Gerade weil die Bildung einen starken Einfluss auf die Entfaltung, die berufliche Zukunft und die Lebenschancen hat, muss sie für alle Mitglieder der Gesellschaft zugänglich sein. Alle in der Schweiz wohnhaften Kinder haben daher das Recht auf Grundschulbildung, egal, ob sie sich illegal im Land aufhalten oder ob sie eine Behinderung haben, durch die sie besondere Unterstützung in der Schule benötigen. Aus demselben Grund sind auch alle Kinder verpflichtet, die Schule zu besuchen – unabhängig davon, ob ihre Eltern es wollen oder nicht.[3]

Auch in der Kinderrechtskonvention ist das Recht auf Bildung eng mit dem Diskriminierungsverbot verwoben: Niemandem darf das Recht auf Bildung wegen des Geschlechts, der Zugehörigkeit zu einer Minderheit oder einer Behinderung verwehrt werden.[4]

Das Kernstück des Rechts auf Bildung, wie es im UNO-Pakt I verankert ist, stellt das Recht auf Grundschulbildung dar. Der Pakt geht jedoch noch weiter und fordert, dass auch Institutionen für die Weiterbildung geschaffen und jenen, welche deren Anforderungen genügen, zugänglich gemacht werden müssen. Dabei handelt es sich um schlichte Zielvorgaben, während der Anspruch auf Grundschulbildung im UNO-Pakt I von den Staaten konkrete Pläne für deren Umsetzung verlangt.[5]

Inhalt des Rechts auf Grundschulunterricht in der Schweiz

Auch die Schweizer Bundesverfassung beschränkt sich im Bereich der Grundrechte darauf, den Anspruch auf «ausreichenden und unentgeltlichen Grundschulunterricht» zu gewährleisten.[6]

Dieses Recht hat verschiedene Teilgehalte, die in ihrer Gesamtheit sicherstellen sollen, dass die Schulbildung ihre vielfältigen Funktionen auch erfüllen kann. Etwa gehört zum Recht auf Bildung, dass der angebotene Schulunterricht «ausreichend», unentgeltlich und frei zugänglich sein soll.

«Ausreichender» Unterricht

Der Schulunterricht muss laut Bundesverfassung «ausreichend» sein. Aber was heisst das genau? Schüler*innen muss mindestens ermöglicht werden, ein selbstverantwortliches Leben zu führen, einen Beruf zu erlernen und an der Demokratie teilzunehmen. Zu den geforderten Inhalten gehören unter anderem die Fähigkeit, sich in Wort und Schrift auszudrücken, rechnerische Grundkenntnisse sowie ein Grundwissen über historische, politische und naturwissenschaftliche Zusammenhänge.

Der Unterricht muss darüber hinaus auch den individuellen Fähigkeiten und Bedürfnissen der Kinder gerecht werden: So muss für lernschwache und teilweise auch für hochbegabte Kinder sowie für Kinder mit Behinderungen eine möglichst geeignete Ausbildung ermöglicht werden. Dabei ist jedoch wenn immer möglich die Integration in einer Regelklasse anzustreben: Ansonsten droht ein Konflikt mit dem Diskriminierungsverbot, welches ebenfalls in der Bundesverfassung verankert ist.

Das Recht auf Bildung während der obligatorischen Schulzeit aus Art. 19 der Bundesverfassung garantiert also ein Mindestmass an Schulbildung. Die genaue Ausgestaltung des Unterrichts innerhalb des grundrechtlich vorgegeben Rahmens liegt in der Kompetenz der Kantone: Diesen steht es auch frei, noch mehr als die minimal geforderten Angebote zu schaffen.[7]

Unentgeltlichkeit

Der Unterricht muss an öffentlichen Schulen gratis sein. Es dürfen also weder Schulgelder noch sonstige Gebühren verlangt werden. Auch das benötigte Lernmaterial muss kostenlos sein. Bei Exkursionen, deren Besuch obligatorisch ist, dürfen den Eltern nur jene Kosten verrechnet werden, welche diese etwa an Lebensmitteln einsparen, weil die Kinder nicht zuhause sind. Der Besuch von Privatschulen ist möglich, sofern diese den Mindesterfordernissen entsprechen. Dort müssen die Kosten allerdings selbst getragen werden. Das gilt – mit einigen Ausnahmen, wie etwa im Fall des unzumutbaren Schulwegs – auch dann, wenn die Eltern ihr Kind in eine andere Schule als jene der Gemeinde schicken wollen. Die Eltern können also nicht auswählen, welche Schule ihre Kinder besuchen. Das wird sich so bald auch nicht ändern: Gleich in mehreren Kantonen wurden Volksinitiativen, die eine freie Wahl der Schule forderten, deutlich abgelehnt.[8]

Freier Zugang

Weil die obligatorische Schulbildung für alle Kinder verpflichtend ist, unabhängig davon, ob deren Eltern damit einverstanden sind, müssen auch alle dieselbe Möglichkeit dazu haben. Deswegen wird einerseits vorausgesetzt, dass der Schulunterricht religiös neutral sein muss. Andererseits handelt es sich aber auch um eine ganz praktische Anforderung: Der Schulweg darf nicht zu lang oder zu gefährlich sein und damit den Besuch der Schule erschweren. Ist das dennoch der Fall, gilt der Schulweg als unzumutbar: Dann müssen die Kosten für den Transport von der öffentlichen Hand übernommen werden.[9]

Ob ein Schulweg als zumutbar gilt oder nicht wird jeweils im Einzelfall entschieden. So erachtete das Bundesgericht zum Beispiel den Schulweg einer Erstklässlerin, welche 15 Minuten zu Fuss und danach etwa 25 Minuten mit dem Schulbus unterwegs war, gerade noch als zumutbar. Den Schulweg einer Achtjährigen, welche einen fünfzigminütigen Fussmarsch, teilweise entlang einer Strasse ohne Trottoir, zurücklegen und danach noch mit dem Schulbus fahren musste, bezeichnete das Bundesgericht jedoch als unzumutbar. Ein Schulweg von 40 Minuten für eine Siebenjährige wurde ebenfalls als zumutbar bezeichnet, da er entlang einer wenig befahrenen Strasse führte, auf der ein Tempolimit von 50 km/h galt. Damit sei der Weg nicht offensichtlich gefährlich.[10]

Einen neuen Ansatz verfolgt unter anderem der Kanton Freiburg: Dort gehen die Schüler*innen zu Fuss und in Begleitung einer erwachsenen Person zur Schule. Unterwegs legen Tafeln die Uhrzeit fest, zu der dieser sogenannte «Pédibus» vorbeikommt, sodass sich weitere Kinder anschliessen können.[11]

Grenzen des Rechts auf Bildung

Das Recht auf Grundschulbildung wird zu den Sozialrechten gezählt und garantiert einen Mindeststandard. Eine weitere Einschränkung dieser ohnehin bereits minimalen Garantie ist daher eigentlich nicht möglich. Die Garantie kann hingegen konkretisiert und an bestimmte Voraussetzungen geknüpft werden, die wiederum eine einschränkende Wirkung haben können. Diese Frage stellt sich beispielsweise bei einem Schulausschluss aus disziplinarischen Gründen: Laut dem Bundesgericht ist ein Schulausschluss von bis zu zwölf Wochen als letzte Option zulässig. Das wurde in einem konkreten Fall damit begründet, dass der betreffende Schüler den Unterricht so stark gestört habe, dass dadurch der Bildungsanspruch der anderen Schüler*innen gefährdet war.[12]

Passende Lerneinheiten

  1. Vgl. Kälin, Walter, und Jörg Künzli. Universeller Menschenrechtsschutz. Basel: Schulthess, 2019, 13.5; Kiener, Regina, Walter Kälin, und Judith Wyttenbach. Grundrechte. 3. Aufl. Bern: Stämpfli Verlag, 2018, 32f./474/477; Plotke, Herbert. «Aktuelle Aspekte der Schulpflicht». Schweizerisches Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht 121 (2020), 600. [ ↑ ]
  2. Vgl. BGE 129 I 12, E. 4.1; Kälin, Walter, und Jörg Künzli. Universeller Menschenrechtsschutz. Basel: Schulthess, 2019, 13.5; Früh, Beatrice. «Die UNO-Kinderrechtskonvention. Ihre Umsetzung im schweizerischen Schulrecht, insbesondere im Kanton Aargau». Universität Zürich, 2007, 57; Kiener, Regina, Walter Kälin, und Judith Wyttenbach. Grundrechte. 3. Aufl. Bern: Stämpfli Verlag, 2018, 475; Belser, Eva Maria, und Bernhard Waldmann. Grundrechte II. Die einzelnen Grundrechte. Zürich/Basel/Genf: Schulthess, 2012, 349. [ ↑ ]
  3. Vgl. Kiener, Regina, Walter Kälin, und Judith Wyttenbach. Grundrechte. 3. Aufl. Bern: Stämpfli Verlag, 2018, 476; Belser, Eva Maria, und Bernhard Waldmann. Grundrechte II. Die einzelnen Grundrechte. Zürich/Basel/Genf: Schulthess, 2012, 348f. [ ↑ ]
  4. Vgl. Früh, Beatrice. «Die UNO-Kinderrechtskonvention. Ihre Umsetzung im schweizerischen Schulrecht, insbesondere im Kanton Aargau». Universität Zürich, 2007, 54f. [ ↑ ]
  5. Vgl. Kälin, Walter, und Jörg Künzli. Universeller Menschenrechtsschutz. Basel: Schulthess, 2019, 13.6f. [ ↑ ]
  6. Art. 19 BV. [ ↑ ]
  7. Vgl. Art. 19 BV; Belser, Eva Maria, und Bernhard Waldmann. Grundrechte II. Die einzelnen Grundrechte. Zürich/Basel/Genf: Schulthess, 2012, 351f.; Kiener, Regina, Walter Kälin, und Judith Wyttenbach. Grundrechte. 3. Aufl. Bern: Stämpfli Verlag, 2018, 352/478, Art. 8 BV. [ ↑ ]
  8. Vgl. Kiener, Regina, Walter Kälin, und Judith Wyttenbach. Grundrechte. 3. Aufl. Bern: Stämpfli Verlag, 2018, 480ff.; Plotke, Herbert. «Aktuelle Aspekte der Schulpflicht». Schweizerisches Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht 121 (2020), 603. [ ↑ ]
  9. Vgl. Kiener, Regina, Walter Kälin, und Judith Wyttenbach. Grundrechte. 3. Aufl. Bern: Stämpfli Verlag, 2018, 480f. [ ↑ ]
  10. Vgl. Kiener, Regina, Walter Kälin, und Judith Wyttenbach. Grundrechte. 3. Aufl. Bern: Stämpfli Verlag, 2018, 481; BGer Urteil 2C_495/2007 vom 27. März 2008, E. 2.3; BGer Urteil 2C_414/2015 vom 12. Februar 2016; BGer Urteil 2C_191/2019 vom 11. Juni 2019, E. 3.3. [ ↑ ]
  11. Vgl. Plotke, Herbert. «Aktuelle Aspekte der Schulpflicht». Schweizerisches Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht 121 (2020), 608. [ ↑ ]
  12. Vgl. Kiener, Regina, Walter Kälin, und Judith Wyttenbach. Grundrechte. 3. Aufl. Bern: Stämpfli Verlag, 2018, 482f.; BGE 129 I 12, E. 9.5. [ ↑ ]
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