Die Vernehmlassung

Paulina Borner

Damit das Zusammenleben in der Schweiz gut funktionieren kann, werden ständig neue Gesetze verabschiedet. Bis ein neues Bundesgesetz allerdings festgeschrieben werden kann, durchläuft ein Gesetz bis zur Annahme mehrere Schritte im Gesetzgebungsprozess. Das Vernehmlassungsverfahren ist ein wichtiger Bestandteil davon.[1] Der Zweck der Vernehmlassung ist es, alle Interessengruppen einzubeziehen und zur Stellungnahme einzuladen.[2] Ausserdem soll der Gesetzesvorschlag auf seine Richtigkeit und Durchführbarkeit geprüft werden.[3]

Foto von Jonas Zürcher auf Unsplash

Wie entsteht ein neues Gesetz?

Um die Bedeutung des Vernehmlassungsverfahrens zu verstehen, lohnt es sich, einen Blick auf die verschiedenen Schritte der Gesetzgebung zu werfen.[4]

Ein Gesetz kann auf Initiative des Bundesrates, des Parlaments oder der Kantone vorgeschlagen werden.

Hier wird im ersten Schritt der Gesetzesentwurf von den entsprechenden Initianten ausgearbeitet. Dieser wird in die Vernehmlassung geschickt. Sie dauert in der Regel bis zu drei Monate. Im Vernehmlassungsverfahren werden insbesondere die Realisierungsmöglichkeiten des Entwurfs geprüft.

Der Gesetzesentwurf gelangt nun zur Diskussion und Annahme in die Bundesversammlung. Stimmen National- und Ständerat dem Entwurf zu, kommt das Gesetz gültig zustande.

Der Gesetzestext wird nun veröffentlicht und es besteht die Möglichkeit für Stimmberechtigte und Kantone das Gesetzesreferendum zu ergreifen. So könnte die Verabschiedung des Gesetzes verhindert werden. Nach Ablauf der Referendumsfrist kann das Gesetz in Kraft treten.

Das Referendum als Gegenspieler

Die direktdemokratischen Mitwirkungsmöglichkeiten der Stimmbürger*innen spielen eine wichtige Rolle für die Schweizer Politik. Das fakultative Gesetzesreferendum ermöglicht, entstehende Gesetze zu stoppen. Deshalb haben Konsens und Kompromisse eine wichtige Bedeutung im politischen Prozess. Um die Wahrscheinlichkeit zu minimieren, dass ein Referendum ergriffen wird, müssen Gesetzesvorhaben möglichst mehrheitsfähig ausgestaltet sein. Diese Suche nach Lösungen mit breiter Akzeptanz verstärkt die Bedeutung des Vernehmlassungsverfahrens. Die Stellungnahmen der verschiedenen Interessengruppen in der Vernehmlassung haben grosses Gewicht. Dieses ist umso grösser, je mehr Mitglieder oder finanzielle Ressourcen die entsprechenden Gruppen haben. Denn diese Faktoren entscheiden darüber, ob eine Gruppe selbst in der Lage ist, ein Referendum anzuführen.[5]

Wer darf in der Vernehmlassung mitreden?

Das Referendum wirkt als Bremse der Gesetzgebung. Die Idee der Vernehmlassung ist es deshalb, möglichst viele Interessen und Meinungen im Voraus an einen Tisch zu bringen, sodass Kompromisse eingegangen werden können und Gesetze rascher breite Akzeptanz gewinnen.

Laut Gesetz kann sich jede Person und jede Organisation am Vernehmlassungsverfahren beteiligen. Dazu eingeladen werden hingegen Kantonsregierungen, politische Parteien, Dachverbände von Gemeinden, Städten und Berggebieten, Dachverbände der Wirtschaft und weitere Kreise.[6]

Sie sind klassische Interessengruppen, die versuchen auf verschiedenen Ebenen auf die Politik und die politische Willensbildung ihren Einfluss zu nehmen. Wichtige Verbände aus der Wirtschaft sind die Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbände. Weitere setzen sich für bestimmte Themen wie Heimat-, Konsumenten-, Natur- oder Umweltschutz ein.[7]

Politische Parteien vertreten meist ganze Weltanschauungen und Ideologien. Sie können aber auch nur als Interessenvertretung bestimmter Gesellschaftsgruppen wirken. Insofern symbolisieren sie eine Scharnierfunktion zwischen Bürger*innen und Staat. Rechtlich gesehen stellen sie Vereine dar.[8]

Für die Kantone ist das Vernehmlassungsverfahren deshalb wichtig, weil sie hier die Möglichkeit haben, unbehindert Einfluss auf die Gesetzesentwicklung zu nehmen. Aufgrund des Föderalismus müssen sie zahlreiche Gesetze selbst umsetzen, wobei sie wenig Möglichkeiten haben, bei deren Entstehung mitzureden.[9]

Die Bundesverfassung verlangt bereits besondere Rücksichtnahme gegenüber Städten, Agglomerationen und Berggebieten.[10] Besonders betreffen sie Themen über die Ausgestaltung des Finanzausgleichs und der Bereitstellung von Infrastruktur.[11] Diese Gemeinwesen erhalten durch die Vernehmlassung einen Einfluss, den sie sonst so direkt nicht wirksam machen könnten.

Die Vernehmlassung erfüllt auch weitere Zwecke in der Gesetzgebung. Einerseits wird die Richtigkeit der Gesetzesentwürfe geprüft. Diese Funktion gewinnt an Bedeutung in der Hinsicht, dass die Parlamentarier*innen keine Berufspolitiker*innen sind. Andererseits soll die praktische Vollzugstauglichkeit beurteilt werden.[12]

Politische Meinungsbildung heute

Das Vernehmlassungsverfahren ist eine Art politischer Meinungsbildung. Es ist ein Beispiel dafür, wie politische Akteure kommunizieren und ihren Einfluss ausüben, um verbindliche kollektive Entscheidungen zu treffen. Dabei handelt es sich um ein konsensorientiertes Verfahren, es sollen möglichst viele Beteiligte beigezogen werden. Charakteristisch für die Schweiz ist die grosse Zahl der Einbezogenen und die breiten institutionellen Mitwirkungsmöglichkeiten. Dies steht im Gegensatz zu majoritären (mehrheitlichen) Verfahren, bei denen ohne Rücksicht auf Minderheiten gehandelt werden kann.

Die Globalisierung präsentiert neue Probleme, welche sich weniger innerhalb von Gemeinde-, Kantons- oder Landesgrenzen lösen lassen. Dafür braucht es grenzüberschreitende Prozesse, wodurch vor allem die Regierung, die Verwaltung und grenzüberschreitend organisierte Interessengruppen einbezogen werden. Für das Parlament und die Stimmbürger*innen bleibt dabei wenig Mitsprachemöglichkeit.[13]

Aufgrund dieser Entwicklung hat auch eine Schwächung des Einflusses der Verbände in der Schweiz stattgefunden. Durch die Erwartung an mehr Transparenz in der Politik und die grosse Präsenz der Medien haben «Hinterzimmerkompromisse», wie sie bei Verhandlungen mit Verbänden oft stattgefunden haben, erschwert. Der Einfluss des Parlaments und des Bundesrates haben dadurch gegenüber den Verbänden an Bedeutung gewonnen. Die Verbände zählen jedoch immer noch zu den wichtigsten Akteuren der Schweizer Politik, da sie in allen verschiedenen Phasen der politischen Meinungsbildung teilnehmen.[14]

Passende Lerneinheit

Vernehmlassung: Interessen, Kompromisse, Konsens

  1. Giovanni Biaggini, Thomas Gächter und Regina Kiener, Staatsrecht (Zürich/St. Gallen: Dike, 2015), 309-314. [ ↑ ]
  2. Art. 147 BV. [ ↑ ]
  3. Art. 2 Abs. 2 VlG. [ ↑ ]
  4. Giovanni Biaggini, Thomas Gächter und Regina Kiener, 311-316. [ ↑ ]
  5. Walter Haller, Alfred Kölz und Thomas Gächter, Allgemeines Staatsrecht (Zürich, Basel, Genf: Schulthess, 2020), §27 N741. [ ↑ ]
  6. Art. 4 VlG. [ ↑ ]
  7. «Interessengruppen», in Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), 23. Januar 2008, https://hls-dhs-dss.ch/articles/017364/2008-01-23/[ ↑ ]
  8. Urs Altermatt und David Luginbühl, «Parteien», in Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), 24. März 2016, https://hls-dhs-dss.ch/articles/017363/2016-03-24/[ ↑ ]
  9. Adrian Vatter, Das politische System der Schweiz (Baden-Baden: Nomos 2014), 238. [ ↑ ]
  10. Art. 50 Abs. 3 BV [ ↑ ]
  11. Giovanni Biaggini, Thomas Gächter und Regina Kiener, 148. [ ↑ ]
  12. Giovanni Biaggini, Thomas Gächter und Regina Kiener, 313. [ ↑ ]
  13. Silvano Moeckli, «Politische Willensbildung», in, Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), 13.04.2016, https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/017367/2016-04-13/[ ↑ ]
  14. Adrian Vatter, 208. [ ↑ ]
Scroll to Top