Basiskonzept Gemeinwohl

Manuel S. Hubacher

Die Vorstellung von Politik und des Politischen ist davon geprägt, was wir unter «guter» oder «richtiger» Politik verstehen. Darin ist auch die Frage enthalten, ob und wann das Interesse der «Allgemeinheit» Partikular- oder Einzelinteressen übertrumpft.[1] Jean-Jacques Rousseau ging davon aus, dass sich das Allgemeinwohl finden lasse, wenn alle unabhängig voneinander nach dem «Gemeinwillen» suchten.[2] Nicht die Summe der Einzelinteressen, sondern nur die kollektive Willensbildung könne das Gemeinwohl garantieren.

Gemeingüter

Ein klassisches Beispiel dafür, wie Einzelinteressen im Widerspruch zum Gemeinwohl stehen können, ist die Allmendeproblematik. Unter der Annahme der Knappheit geht es dabei um eine frei zugängliche Allmende, welche aufgrund der unregulierten individuellen Nutzung als Weideland von einer Übernutzung bedroht ist, womit letztlich ein Schaden für alle entsteht. Weitere Beispiele sind die Überfischung der Weltmeere, Raubbau, Umweltverschmutzung etc. Die Frage stellt sich dann, ob die Nutzung staatlich reguliert werden muss, oder ob auch eine Selbstregulierung durch soziale Normen und soziale Kontrolle wirksam sein kann.[3]

Ähnlich stellt sich bei öffentlichen Gütern, welche nicht rationiert werden müssen, die Frage der kollektiven Bereitstellung. Dies gilt beispielsweise im Falle eines Leuchtturms, der Strassenbeleuchtung oder der Sicherstellung der Landesverteidigung. Da Personen nicht sinnvoll von der Nutzung ausgeschlossen werden können, besteht der Anreiz, sich an der Bereitstellung nicht zu beteiligen. Dieses Verhalten wird das «Trittbrettfahrerproblem» bezeichnet. Private Anbieter werden solche Güter entsprechend nicht oder nicht in genügendem Masse anbieten. Entsprechend werden solche Güter üblicherweise durch den Staat über Zwangsabgaben bereitgestellt.

Das grösste Glück der grössten Zahl?

Klassische Utilitaristen wie Jeremy Bentham beurteilen «gute Politik» danach, ob deren Gesamtnutzen für eine Gesellschaft maximiert ist.[4] Wie der Nutzen auf Personen verteilt ist und ob der maximale Gesamtnutzen zum Nachteil Einzelner erfolgt, ist dabei unerheblich. In Reaktion auf den Utilitarismus formuliert John Rawls seine einflussreiche Theorie der Gerechtigkeit (vgl. Knappheit).[5] Zum einen fordert er gleiche Grundfreiheiten für alle. Weiter sollen im Sinne der Chancengleichheit alle Positionen und Ämter allen offen stehen. Schliesslich seien soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten nur so weit zu rechtfertigen, wie diese zum Vorteil der am schlechtesten Gestellten sind. Die Frage, welche sich dann stellt, ist inwiefern der Wohlstand der einen auch zum Wohlstand der anderen führt – der sogenannte Trickle-Down-Effekt.

Brillenglas «Gemeinwohl»

Mit dem didaktischen Modell der Politik-Brille kann man das Basiskonzept Gemeinwohl als Brillenglas verwenden, um politische Dimensionen in einem Unterrichtsgegenstand zu identifizieren, zu analysieren und zu bewerten. Wolfang Sanders verbindet in seinem Modell der Basiskonzepte die Grundfrage «Was ist gut für das Gemeinwesen und nach welchen Massstäben kann dies beurteilt werden?»[6] mit dem Basiskonzept Gemeinwohl. Weitere gemeinwohlorientierte Fragen an einen Gegenstand sind z. B.:[7]

  • Welche Güter und Rechte (Wasser, Strom, Luft, Raum, Bildung, Gesundheitsversorgung, Meinungsfreiheit…) müssen für alle vorhanden sein?
  • Was soll in staatlicher, was in privater Hand sein?
  • Welche Werte sollen in der Gesellschaft verwirklicht werden?
  • Wer trägt eine (Mit-)Verantwortung, dass es möglichst allen Menschen gut geht (Staat, Parteien, Unternehmen, jeder einzelne, niemand)?
  • Wie kann es möglichst vielen Menschen gut gehen?

Diese Liste lässt sich beliebig erweitern. Die Fragen zeigen auf, wie mit Hilfe der Basiskonzepte eine politische Perspektive auf ganz unterschiedliche Themen gewonnen werden kann.

  1. Wolfgang Sander, Politik entdecken – Freiheit leben: Didaktische Grundlagen politischer Bildung, 4. Aufl., Politik und Bildung 50 (Schwalbach/Ts.: Wochenschau, 2013), 101. [ ↑ ]
  2. Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, oder, Prinzipien des Staatsrechts (Berlin: Akademie, 2000 [1762]), Buch 2, Kapitel 3. [ ↑ ]
  3. Elinor Ostrom, Governing the Commons: The Evolution of Institutions for Collective Action (Cambridge: Cambridge University Press, 1990). [ ↑ ]
  4. Bentham, Jeremy, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation (Oxford: Clarendon Press: 2009 [1780]). [ ↑ ]
  5. Rawls, John. A Theory of Justice (Cambridge: Harvard University Press, 1971). [ ↑ ]
  6. Wolfgang Sander, «Wissen: Basiskonzepte der Politischen Bildung», Informationen zur Politischen Bildung, Nr. 30 (2009): 58. [ ↑ ]
  7. Fragen übernommen aus: Vera Sperisen und Claudia Schneider, Basiskonzepte, POLIS, Nr. 11 (2019): 9, https://www.fhnw.ch/de/die-fhnw/hochschulen/ph/institute/institut-forschung-und-entwicklung/forschungszentren/zentrum-politische-bildung-und-geschichtsdidaktik/polis-das-magazin-fuer-politische-bildung/media/polis_19.pdf#page=5[ ↑ ]
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