Konzeptlernen

Julia Thyroff

Unter Mitarbeit von Jan Scheller

Der Text befasst sich mit der politischen Sachkompetenz und der Frage, wie diese erworben werden kann. Sachkompetenz ist nicht gleichbedeutend mit dem sogenannten «Faktenwissen». Vielmehr geht es bei Sachkompetenz darum, dass Schüler*innen sich Begriffe, Kategorien und Konzepte aneignen sollen, die ihnen helfen, sich im Feld des Politischen zurechtzufinden.[1] Essenziell, aber auch am anspruchsvollsten, ist darunter das Konzeptlernen.

Konzepte als «mentales Netz»

Abbildung 1: Basis- und Fachkonzepte nach Wolfgang Sander (Bild: POLIS)

Politische Bildung zielt darauf, dass Schüler*innen selbständig politisch urteilen und handeln können. Neben eher prozessorientierten Fähigkeiten wie Argumentieren und Diskutieren benötigen Schüler*innen dafür auch eine Art «mentales Netz», das ihnen dabei hilft, sich im Feld des Politischen zu orientieren. Die Rede ist von den sogenannten Konzepten.

Konzepte sind Vorstellungen zu unterschiedlichsten Komplexen, Gegebenheiten und Sachverhalten (z. B. Macht, Europa, Klimawandel, Menschenrechte, Schwerkraft, Regen, Demokratie u. v. m.). Konzepte stehen nicht isoliert nebeneinander, sondern sind miteinander vernetzt. Sie werden durch Sozialisation geprägt, sind individuell, laufend veränderlich, können bewusst, aber auch unbewusst vorhanden sein.[2]

Die Forschung hat nachgewiesen, dass bereits kleine Kinder über politische Vorstellungen und Erklärungsmodelle verfügen.[3] Kinder haben beispielsweise früh eine Vorstellung davon, was Recht und was gerecht ist – auch wenn sie dies kaum als Basiskonzept bezeichnen. Diese subjektiven Vorstellungen über Recht und Gerechtigkeit beeinflussen, wie Kinder Gesetzesbrüche gesellschaftlich einordnen, wie sie den Umgang mit Straffälligen beurteilen und wie sie im eigenen Alltag mit Regelbrüchen umgehen. Die subjektiven Vorstellungen prägen auch die Weise, wie die Schüler*innen neues Wissen im Unterricht wahrnehmen und einordnen.

Lehrpersonen sollten deshalb die Konzepte der Schüler*innen kennen, um daran anknüpfend deren Konzepte mit fachlichem Wissen zu irritieren, zu erweitern und zu differenzieren. Genau um diese Veränderung von Konzepten geht es, wenn von Konzeptlernen oder vom Erwerb von Sachkompetenz die Rede ist.

Gibt es «richtige» Konzepte? Nein!

Wichtig ist: Beim Konzeptlernen in der Politischen Bildung geht es nicht darum, eindeutig «falsche» Konzepte durch «richtige» zu ersetzen. Dies hängt mit dem Charakter von Konzepten in den Gesellschaftswissenschaften zusammen. Denn Konzepte sind hier selten eindeutig richtig oder falsch, sondern lediglich mehr oder weniger gut begründet, mehr oder weniger komplex.

In den Politikwissenschaften gibt es nicht «die eine» allgemeinverbindliche Definition von Demokratie. Demokratietheorien unterscheiden sich je nach Zeit und Kontext. Hinzu kommt, dass «Demokratie» zunehmend als ein Konglomerat aus zahlreichen Teilfacetten definiert wird (siehe z. B. das Demokratiebarometer), die durchaus in Widerspruch zueinander stehen können (z. B. Gleichheit und Freiheit). Ab wann ein Staat als eine Demokratie gilt, welche Merkmale dafür zu welchem Grad erfüllt sein müssen, anhand welcher Indikatoren dies bestimmt wird usw.: Auf all diese Fragen gibt es keine eindeutig verbindliche Antwort, sondern unterschiedliche wissenschaftliche Ansätze, die immer wieder ausgehandelt und weiterentwickelt werden.

Dies hat Konsequenzen für den Unterricht. Denn in der Politischen Bildung kann es folglich nicht darum gehen, falsches durch eindeutig richtiges Wissen zu ersetzen. Zwar weisen Schüler*innen Wissenslücken auf, besitzen Fehlinformationen über einzelne Aspekte von (Basis‑)Konzepten, ihre subjektiven Konzepte lassen sich nicht begründen oder sie sind aus normativer Sicht problematisch. Es ist wichtig und richtig, diese problematischen Konzepte anzusprechen. Dies ist etwa dann angebracht, wenn sich ein*e Schüler*in im Unterricht rassistisch äussert. In einer pluralistischen und diversen Gesellschaft kann es zum problematischen Konzept aber nicht den Gegenpol eines absolut richtigen Konzeptes geben.[4]

Damit unterscheidet sich die Politische Bildung vom Lernen in den Naturwissenschaften. Dort ist der sogenannte Conceptual Change-Ansatz gebräuchlich, bei dem es darum geht, eindeutig falsche Fehlkonzepte von Schüler*innen (z. B. ihr Konzept von Schwerkraft) in korrekte, wissenschaftsförmige Konzepte umzuwandeln.[5] Viele Autor*innen postulieren aber für die Politische Bildung (und für andere Gesellschaftswissenschaften wie z. B. Geschichte) ein anderes Konzeptverständnis.[6] Nach diesem sind Konzepte eher mentale Strukturen, die dabei helfen, politisches Geschehen und politische Sachverhalte wahrzunehmen, einzuordnen und zu verarbeiten. Da diese Konzepte individuell und kontextabhängig sind, können sie nicht als eindeutige Lerninhalte vermittelt und auswendig gelernt werden. Vielmehr sollen Lernende ihre eigenen Konzepte identifizieren und reflektieren und durch Impulse dazu angeregt werden, diese Konzepte weiter zu entwickeln.[7]

Folgt man diesen Überlegungen, kann es auch keinen eindeutigen, abgeschlossenen Kanon von zu erlernenden Konzepten geben. Zwar gibt es für die Politische Bildung mehrere Vorschläge für Sets von Basiskonzepten[8], von welchen eines auch für die Unterrichtseinheiten von PB-Tools leitend ist. Doch weder ist dieses Set abschliessend, noch ist es die Idee, es gebe eine eindeutige Definitionen dieser Konzepte.

Uff, und was soll das für den Unterricht bedeuten?

Für den Unterricht bedeutet dies: Beim Konzeptlernen geht es nicht darum, Schüler*innen «die eine» Definition von Macht, Recht oder Gemeinwohl zu vermitteln, die sie anschliessend auswendig beherrschen sollen. Dies wäre Begriffslernen. Auch kategoriales Lernen, bei dem die Schüler*innen erlernte Fachbegriffe auf neue Zusammenhänge übertragen und auf diese Weise ausdifferenzieren, führt noch nicht weit genug.

Auch wenn diese Formen in der Politischen Bildung ihre Berechtigung haben, sollte der Unterricht darüber hinaus gehen. Erstens impliziert sowohl blosses Begriffslernen als auch kategoriales Lernen, es gebe eindeutige Definitionen. Zweitens findet damit keine systematische Vernetzung mit dem Vorwissen der Schüler*innen statt.

Im Gegensatz zum Begriffslernen und kategorialen Lernen geht es beim Konzeptlernen darum, mit den Schüler*innen an ihren Vorstellungen zu arbeiten. Konzeptlernen umfasst aber mehr, als lediglich zu Beginn einer Unterrichtseinheit die Vorstellungen von Schüler*innen zusammenzutragen. Konzeptlernen bedeutet auch, im Verlauf einer Einheit an und mit diesen Vorstellungen zu arbeiten, sie auszudifferenzieren und zu erweitern und mit Schüler*innen über diesen Prozess zu reflektieren.[9]

Die Schüler*innen lernen eine vorgegebene Definition kennen (z. B. Demokratie) und sollen diese auswendig lernen.

Die Schüler*innen wenden eine bekannte Definition (z. B. Demokratie) auf einen oder mehrere Sachverhalte/Fallbeispiele an. Die bekannte Definition kann auf diese Weise zugleich erweitert und ausdifferenziert werden.

Schüler*innen bringen ihre eigenen Vorstellungen zu Sachverhalten ein (z. B. Demokratie). Sie erweitern diese und differenzieren sie aus. Sie erkennen, dass es mehrere mögliche Definitionen eines Sachverhalts gibt, die je nach Kontext und Perspektive wechseln.

Phasen des Konzeptlernens

Wie Konzeptlernen genau ablaufen kann, hierzu hat der Didaktiker Alfred Germ ein Phasenmodell [10] vorgeschlagen, das die Grundlage für die nachfolgenden Ausführungen bildet:

Nach diesem Modell sollen im Unterricht zunächst die Vorstellungen erhoben werden, die die Lernenden zu Unterrichtsgegenständen sowieso bereits mitbringen. Beispielsweise lässt sich hier ganz konkret fragen: Was verstehen die Schüler*innen unter «Macht»? Was ist für sie «Recht» und «Gerechtigkeit»? In dieser Phase werden die Konzepte der Schüler*innen nur gesammelt, etwa in Form von Einzelarbeit an Mindmaps, nicht aber kommentiert und bewertet. Anschliessend sollen die Schüler*innen ihre Konzepte untereinander vergleichen und nach Gründen für mögliche Unterschiede forschen. Durch den Vergleich der individuellen Konzepte kann eine erste Konzepterweiterung bei den Schüler*innen stattfinden und es wird bereits deutlich, dass Konzepte perspektivabhängig und erfahrungsgebunden sind.

Erst im Anschluss an diese Phasen bringt die Lehrperson erstmals selbst Informationen und Materialien ein. Diese haben die Funktion, Reflexion und eine Erweiterung der Konzepte der Schüler*innen anzustossen. Geht es ganz konkret darum, mit Schüler*innen über das Konzept «Macht» zu sprechen, ist es beispielsweise möglich, nun wissenschaftliche Definitionen von Macht in den Unterricht einzubringen und mit den Vorstellungen der Schüler*innen zu vergleichen. Weiter kann mit Fallbeispielen gearbeitet werden, in welchen zwar nicht explizit Macht definiert wird, aber Aspekte von Macht sichtbar werden. Es gilt dann, die eigenen bzw. kennengelernten Definitionen von Macht auf diese Fallbeispiele zu übertragen und auf ihre Brauchbarkeit hin zu überprüfen. Konzepte sind perspektivisch und kontextabhängig, was insbesondere im Vergleich mehrerer Konzepte sichtbar wird.

Zentral ist also beim Konzeptlernen die Auseinandersetzung mit mehreren, unterschiedlichen Konzepten und Reflexion von deren Reichweite. Sowohl aufgrund des Wesens von Konzepten wie auch aufgrund des Überwältigungsverbots verbietet es sich, Lernende ausschliesslich mit «dem einen richtigen, wissenschaftlichen» Konzept zu konfrontieren. Damit der Politikunterricht nicht ein Ort wird, an dem Schüler*innen «richtige» Konzepte lernen, muss der Fokus zudem auf der Reflexion und Deliberation liegen. Das heisst, die Politische Bildung muss ein Ort sein, in dem Schüler*innen politische Konzepte und Deutungsmuster aushandeln und ihre subjektiven Konzepte weiterentwickeln können.

Konzeptlernen konkret

Löwendenkmal, Luzern
Denkmäler?
Konflikte im öffentlichen Raum

In den Unterrichtseinheiten auf PB-Tools sind Elemente des Konzeptlernens an mehreren Stellen verwirklicht, etwa wenn die Schüler*innen an ihren Konzepten von öffentlichem Raum bzw. Konflikten im öffentlichen Raum arbeiten oder an ihrem Konzept eines Denkmals.

  1. Reinhard Krammer, «Kompetenzen durch Politische Bildung. Ein Kompetenz-Strukturmodell», Informationen zur Politischen Bildung 29 (2008): 11. [ ↑ ]
  2. Thomas Hellmuth, Historisch-politische Sinnbildung. Geschichte - Geschichtsdidaktik – politische Bildung (Schwalbach/Ts.: Wochenschau, 2014), 234; Krammer, «Kompetenzen durch Politische Bildung», 11. [ ↑ ]
  3. Z.B. Kathleen Raths und Katharina Kalcsics, «Macht mit Legitimation – Vorstellungen von Kindern über Herrschaft im demokratischen System», Zeitschrift für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften 2, Nr. 2 (2011): 58–81. [ ↑ ]
  4. Wolfgang Sander, Politik entdecken – Freiheit leben: Didaktische Grundlagen politischer Bildung, 4. Aufl., Politik und Bildung 50 (Schwalbach/Ts.: Wochenschau, 2013), 104. [ ↑ ]
  5. Z. B. Michelene T. H. Chi und Rod D. Roscoe, «The Processes and Challenges of Conceptual Change», in Reconsidering Conceptual Change. Issues in Theory and Practice, hg. von Margarita Limón und Lucia Mason (Dordrecht, 2002), 3–27; Stella Vosniadou, «Conceptual Change in Learning and Instruction. The Framework Theory Approach», in International Handbook on Conceptual Change, hg. von Stella Vosniadou, 2. Aufl. (New York, 2013), 11–30. [ ↑ ]
  6. Zum Konzeptlernen in der Politischen Bildung z. B.:Dirk Lange, «Konzepte als Grundlage der politischen Bildung. Lerntheoretische und fachdidaktische Überlegungen.», in Konzepte als Grundlage der politischen Bildung, hg. von Autorengruppe Fachdidaktik, Schriftenreihe 1141 (Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 2011), 95–109; Wolfgang Sander, «Konzepte und Kategorien in der politischen Bildung», in Politikdidaktische Basis- und Fachkonzepte, hg. von Thomas Goll, Schriftenreihe der Gesellschaft für Politikdidaktik und politische Jugend- und Erwachsenenbildung (Schwalbach/Ts.: Wochenschau, 2011), 32–43. Es gibt auch einzelne Versuche, den Conceptual Change-Ansatz auf die Politische Bildung zu übertragen, z.B. Georg Weißeno u. a., Konzepte der Politik. Ein Kompetenzmodell, Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung 1016 (Bonn: Bundeszentrale für Politische Bildung, 2010). [ ↑ ]
  7. Alfred Germ, Konzeptuelles Lernen in der politischen Bildung: Theoriebildung, fachdidaktische Umsetzung, Praxisbeispiele, Politikwissenschaft 203 (Wien: Lit, 2015), 55. [ ↑ ]
  8. z. B. Autorengruppe Fachdidaktik, Hrsg., Konzepte der politischen Bildung: Eine Streitschrift, Politik und Bildung 64 (Schwalbach/Ts.: Wochenschau, 2011); Joachim Detjen u. a., Politikkompetenz – ein Modell (Wiesbaden: Springer VS, 2012), https://doi.org/10.1007/978-3-658-00785-0; Wolfgang Sander, «Wissen: Basiskonzepte der Politischen Bildung», Informationen zur Politischen Bildung, Nr. 30 (2009): 57–60, https://www.nibis.de/uploads/2medfach/files/30_sander.pdf; Weißeno u. a., Konzepte der Politik. [ ↑ ]
  9. Buchsteiner, Germ, "Begriffe als wertende Vorstellungen offenlegen. Überlegungen zum konzeptuellen Lernen im Geschichtsunterricht", in Brennpunkte heutigen Geschichtsunterrichts, hg. von Deile, van Norden, Riedel (Frankfurt am Main.: Wochenschau 2021), 40–46; Germ, Konzeptuelles Lernen in der politischen Bildung; Kühberger, «Vorhandene Vorstellungen von SchülerInnen als Ausgangspunkt. Zur Konzeption eines konstruktivistischen Wissenserwerbs im frühen politischen Lernen»; Kühberger, «Lernen mit Konzepten – Basiskonzepte in politischen und historischen Lernprozessen». [ ↑ ]
  10. Germ, Konzeptuelles Lernen in der politischen Bildung. [ ↑ ]
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